Die Anverwandlerin

Zur Arbeit von Annesley Black

von Michael Rebhahn

Mitte der 2000er Jahre machte ein Begriff die Runde, der – sicher nicht zuletzt aufgrund seiner spektakulären Phonetik – seinen festen Platz im kulturellen Diskurs fand: Serendipity. Vom englischen Schriftsteller Horace Walpole Mitte des 18. Jahrhunderts als Neologismus geprägt und in den 1950er Jahren durch den Soziologen Robert Merton neu belebt, beschreibt der Terminus eine Erkenntnis, die weniger durch gewissenhafte Empirie, als durch Funde aufgrund von „Zufällen und Scharfsinn“ (Merton) zustande kommt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, als im Zuge der Omnipräsenz des Internets die assoziative Recherche zur alltäglichen Kulturtechnik geriet, avancierte Serendipity dann zum Modewort, mit dem die Un-Ordnung „diffuser“ Kreativität aufgewertet und zugleich die Strenge eines instrumentellen Zielbewusstseins in Frage gestellt wurde. Serendipity weicht die Härte des Normativen auf und bestimmt das Suchen und Finden als einen Prozess, dem das Unbeabsichtigte und Ungeplante wesentlich eingeschrieben ist.

Wenn Annesley Black über ihre Musik spricht, ist immer wieder von eben diesem Modus des Suchens, Findens und Entdeckens die Rede – von unverhofft Aufgestöbertem, von Wegen und Abzweigungen mit unbekanntem Ziel. Ein Blick in ihren Werkkatalog genügt, um einen Eindruck von der enormen Bandbreite dieser produktiven Windungen zu bekommen: Seilspringer, Badminton- und Curlingspieler, Kampftechniken des Kung Fu, der Apple-Gründer Steve Jobs oder László Moholy-Nagys Licht-Raum-Modulator tauchen im Umfeld ihrer Stücke ebenso auf wie die Haushaltsreform im Südsudan, Texte von Gertrude Stein, Wüstenlandschaften in Nevada, Surf Rock oder asiatisches Schattentheater. Dass hier auf den ersten Blick fast nichts primär Musikalisches aufscheint, sollte nicht täuschen: Annesley Black ist eine Meisterin der Anverwandlung – und es gibt kaum etwas, was unter ihrem Zugriff nicht zum Klingen gebracht würde.

Die konkrete kompositorische Praxis ist dabei nicht selten erratisch und folgt einer Eigenlogik, die zunächst alles andere als systematisch anmutet. Dahinter allerdings eine rein intuitive Bricolage zu vermuten, würde Blacks Arbeit in keiner Weise gerecht. So wenig Serendipity dem Suchenden anlasslos zufällt, sondern sich erst dann offenbaren kann, wenn von vornherein die Ahnung einer möglichen Sinnstiftung besteht, so wenig ist Blacks Musik allein ein Produkt glücklicher Fügungen. Die Abdrift der Erkenntnis bedarf hier stets der Urteilskraft und der Geistesgegenwart, um begreiflich – und damit begrifflich – zu werden. In diesem Sinne besteht das zentrale Moment des Komponierens von Annesley Black darin, verstreute Zeichen zu einer integralen „Erzählung“ zusammenzufügen und sie so zu interpretieren, als seien sie von jeher miteinander verbunden gewesen.

Grundiert wird diese Arbeit in erster Linie von einer konsequenten Disziplin. Denn bei aller assoziativen Aufgeschlossenheit ist das Sich-Leiten-Lassen bei Annesley Black keine ungerichtete Bewegung, sondern folgt von vornherein einer „Einspurung“, einem strukturellen Rahmen, in den zunächst alles das „hineingeschrieben“ wird, was die kompositorischen Übersetzungen und Filterungen generieren. Der Überschuss ist dabei kalkuliert: Annesley Black ist keine Komponistin, die sich nur mit druckreifen Ideen an den Schreibtisch setzt. Im Gegenteil: Das Fixieren ihrer Stücke impliziert für sie immer auch die Dokumentation der Neben- und Irrwege, der Unsicherheiten und Verfehlungen. gewesen.

Mit jeder Komposition begibt sich Annesley Black damit aufs Neue couragiert ins zukunftsoffene Experiment; die Gewissheit über die konkrete Gestalt des jeweiligen Stücks resultiert aus einem permanenten Wechselspiel zwischen Versuch und Reflexion. Während zu Beginn dieses Prozesses das Material noch vieles bedeuten kann, bedeutet es nach und nach vieles nicht mehr. Und irgendwann sind dann alle Unklarheiten ausgeräumt: das Stück „steht da“. Die Wege, die an diesen Punkt geführt haben, bergen letztlich ein Paradoxon: sie sind ungemein labyrinthisch und vollkommen logisch zugleich: „Am Ende“, sagt Annesley Black, „findet alles zusammen, so wenig es auch anfangs danach ausgesehen haben mag“. – Mehr Serendipity geht nicht.